Joana Bértholo, geboren 1982 in Lissabon, ist Dramatikerin und Schriftstellerin.
Sie studierte Grafik-Design in Lissabon und Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), wirkte als Freiwillige in Buenos Aires bei Eloisa Cartonera und beteiligte sich in verschiedenen Ländern an Performances an der Schnittstelle von Literatur, Buchkunst, Ökologie und Design.
2010 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Diálogos para o Fim do Mundo“, Gewinner des Maria-Amália-Vaz-de-Carvalho-Preises, gefolgt von dem Erzählband „Havia“, der mehrfach in Brasilien für das Theater adaptiert wurde, und dem Roman „O Lago Avesso“ (2013). Letzterer wurde in Berlin geschrieben.
Joanas erstes Kinderbuch, „O Museu do Pensamento“, wurde von der portugiesischen Autorengesellschaft (SPA – Sociedade Portuguesa de Autores) zum besten Kinder- bzw. Jugendbuch gewählt und gewann auch den Preis des Literaturfestivals von Fatima.
„Ecologia“ (Ökologie, 2018) erzählt von einer Gesellschaft, in der die Wörter zu einer Ware werden, für die jeder bezahlen muss.
Im Laufe der Jahre hat sie viel in Theater und Tanz gearbeitet, eigene Stücke geschrieben oder das Schreiben anderer Autoren unterstützt. 2018 wurde am portugiesischen Nationaltheater D. Maria II in Lissabon ihr Stück „Quarto Minguante“ aufgeführt.
Ihr jüngster Roman „A História de Roma“ erschien 2022.
Ursprünglich in der deutschen Ausgabe von Jornal de Letras veröffentlicht. Übersetzung ins Deutsche von Barbara Bichler.
Joana Bértholo : Ökologie
Mein erster Roman, der veröffentlicht wurde, Diálogos para o Fim do Mundo (dt: Dialoge für das Ende der Welt), beschritt bereits die Pfade, die schließlich fast zehn Jahre später in Ecologia (dt: Ökologie) zusammenliefen. Zwar unterscheiden sie sich in der Form, doch beide Romane erzählen vom selben Kern, von der Nonkonformität mit der materialistischen – aber auch kognitiven – Beziehung zu unserem Planeten: Warum sehen wir die Natur als etwas von uns Getrenntes an? Warum nehmen wir ihre Zerstörung nicht als Selbstzerstörung wahr? Warum tun wir nicht mehr dagegen? Warum hören wir nicht auf damit? In der Gesellschaft von Ecologia, in der beinahe alles schon privatisiert wurde – alles ist käuflich, alles ist veräußerlich -, ermöglicht der technische Fortschritt, jede Äußerung zu digitalisieren, zu quantifizieren und zu besteuern, und generiert damit einen neuen Markt: Euphemistisch nennt sich diese Entwicklung „Plan der Wiederaufwertung der Wörter“ und konfrontiert uns mit der Frage: Was wäre, wenn wir fürs Sprechen bezahlen würden? Aus nächster Nähe folgen wir Figuren verschiedener sozialer Schichten: der Journalistin Carolina und dem Journalisten Tápio, einem Paar, das nicht in der Lage ist, miteinander zu sprechen; dem befreundeten Ehepaar Lucía und Pablo und ihrer Tochter Candela. Candela ist auf den ersten Seiten ein Mädchen und am Ende des Buches eine ältere Dame, wodurch klar wird, wie viel Zeit vergangen ist, ohne je zu definieren zu welcher Zeit (doch auf jeden Fall in der Zukunft); Darla Walsh, die unternehmerische Allmacht, und die Echo-Frau, ihre Assistentin; Nelson, der für ein Verbrechen im Gefängnis sitzt, das er nicht begangen hat, und Pedro, der Stotterer. Um sie kreisen einige andere Namen, die alle damit beschäftigt sind, neue Kommunikationsformen zu schaffen, und die alle Sprache als Phänomen ansehen. Sie alle müssen die unterschiedlichen Stufen, oder „Phasen“, des Privatisierungsplans durchlaufen: In der ersten Phase werden nur ein paar Wörter „aufgewertet“, einige wenige, doch bald werden es immer mehr, während das System dahinter lernt, immer genauer hinzuhören, und erstaunlicherweise auch lernt dazuzulernen.
Seit den Diálogos para o Fim do Mundo wurde mir mit jedem weiteren Text klarer, dass wir keine wirkliche ökologische (protektionistische) Debatte führen können, ohne die ökonomischen Fragen grundlegend zu diskutieren, wie die des Konsums und die der Beschränkung all der unterschiedlichen Wertformen auf eine einzige: die monetäre. Deshalb widmet sich ein Roman mit dem Titel Ecologia beinah ausschließlich Geschichten in denen es um Märkte, Technologien und Formen des Sprechens geht. Die Ökologie wird von der Biologie abgespaltet, um die Beziehung von Mensch und Welt genau unter die Lupe zu nehmen. Gegen Ende des Buches lernen wir dank einer kleinen Gruppe Widerstandskämpfer diejenigen kennen, die sich weigerten, zu einem Teil der totalitären Logik zu werden, und ihre Beweggründe dafür. Zu ihren Argumenten zählen das Schweigen, die entschleunigte Zeit und die nicht-menschlichen Sprachen. Am Schluss steht der Vorschlag, die Welt solle ihre ganz eigene Sprache sprechen, eine, die wir heute verlernen oder die zu hören wir uns weigern.
Lesungen mit den portugiesischen Autorinnen Joana Bértholo und Raquel Nobre Guerra in der Buchhandlung Die Buchkönigin.
Konzept, Umsetzung und Übersetzung des Interviews aus dem Portugiesischen ins Deutsche von Claudia Piechocki-Steiner.
Die Grenzen des Romans ausloten: Interview mit der Autorin Joana Bértholo
Infobox: Joana Bértholo, geboren 1982 in Lissabon, ist Autorin und Dramatikerin. Studierte Grafik-Design an der Fakultät für Bildende Künste in Lissabon. Doktoratsstudium in Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Erschienene Werke (Auswahl): Diálogos para o Fim do Mundo (2010); O Lago Avesso (2013); Ecologia [Ökologie] war 2019 Finalist für vier renommierte portugiesische Literaturpreise.
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Frau Bértholo, Sie zählen zu den erfolgreichsten Gegenwartsautor*innen Portugals. Die Gegenseitigkeitsgesellschaft Montepio ernannte Sie gemeinsam mit neun anderen Kunstschaffenden zu den Talenten, die die nächste Generation der portugiesischen Kulturszene prägen werden. Es gibt auch den interessanten Zusatz, dass Sie in Berlin gelebt haben. Hat Deutschland Ihr literarisches Schaffen beeinflusst?
Definitiv. Ich bin in einem Land aufgewachsen, dessen Kultur und Bildung stark frankofon geprägt sind. Hinzu kommt, dass Portugal ein Anliegerstaat ist. Sich als damals 20-jährige Künstlerin plötzlich im Zentrum Europas zu befinden war großartig! Es bedeutete, aus den Quellen jenes Landes zu trinken, aus dem die großen künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Die literarischen Referenzen in der modernen deutschen Literatur sind ausgesprochen global. Und in Berlin war ich sehr mobil, hatte Freundschaften aus aller Welt. Insofern kann ich sagen, dass nur mein Roman O Lago Avesso in Berlin entstehen konnte. Er ist in seinem Wesen transitorisch und hat nichts Portugiesisches an sich. Damals war ich sehr vom Gegenwartstanz geprägt, sodass der Roman von einer Choreografin handelt.
Wenn man in Ihren Büchern blättert, fällt auf, wie gern Sie mit Schriftarten, Textanordnungen und Fotos spielen. Welche Gedanken haben Sie bei dieser kreativen Art des Dialogs mit den Leser*innen?
Diese kreative Herangehensweise macht einen derart wesentlichen Teil meiner Ausbildung aus, dass es für mich schwierig ist, zu schreiben, ohne gleichzeitig an die Form des Textes zu denken. Ich sehe den Text nie als eine fixe Einheit, sondern entwerfe während des Schreibens bereits Ideen fürs Layout, grafische Objekte oder die Farbe des Einbands. Diese visuellen Elemente helfen mir dabei, ein Gefühl für das Buch zu bekommen.
Neben auffallender Grafik scheinen Ihnen auch intermediale Bezüge wichtig zu sein.
Das hat damit zu tun, dass ich Literatur nicht als hermetisch verschlossenen Bereich für die Entstehung von Wissen ansehe, sondern als Ausübung eines permanenten Dialogs mit der Welt und anderen künstlerischen Ausdrucksformen. In O Lago Avesso habe ich das mit der universellen Sprache des Tanzes ausprobiert, in Dois Cavalos de Turim mit Film. Wenn wir in die Vergangenheit blicken, sehen wir, was der Roman nicht schon alles bedeutet und vollbracht hat. Was mich beim Schreiben neugierig macht sind Fragen wie: Was kann der Roman noch schaffen? Was passiert an seinen Grenzen? Ich liebe Bücher, die ans Limit gehen und die Frage aufdrängen: Ist das wirklich noch ein Roman?
Wie verhält es sich mit dem Theater? Macht das Theater für Sie Erfahrungen erlebbar, die beim Verfassen von Romanen ausbleiben?
Das ist eine sehr wichtige und persönliche Frage, weil es theoretisch vielleicht keinen Unterschied zwischen dem Verfassen eines Romans und eines Theaterstückes gibt. Ich kann für mich persönlich akzeptieren, dass jeder Text, der in einem Buch publiziert wird, auf die Bühne kommt und als dramatischer Text bezeichnet wird. Selbst unter Berücksichtigung von Didaskalien und anderen Merkmalen der Dramatik glaube ich per se nicht an Codes, die mich eine klare Trennlinie zwischen Theater und Literatur ziehen lassen. Im Widerspruch zum eben Gesagten muss ich jedoch zugeben, dass das Schreiben von Drama für mich nur dann sinnvoll ist, wenn es mit einer anderen Form des Denkens zu tun hat, bei dem man gemeinschaftlich in einem Proberaum improvisiert und sich der Wirkungsweise des Theaters bedient. Einen Roman für die Bühne zu adaptieren interessiert mich nicht.
Erzählen Sie uns etwas zur Entstehung Ihres Romans Ecologia. Der Roman spielt in der nahen Zukunft und beschreibt eine Welt, in der alles privatisiert wurde und ein Konzern das Wort zur Ware erklärt. Das hat verheerende Konsequenzen für die Menschheit. Was gab Ihnen den Anstoß, sich mit diesem speziellen Thema zu beschäftigen?
Ausschlaggebend war der Moment, als 2011 bestimmte Firmen versuchten, genetisch verändertes Saatgut zu patentieren, um mit diesem geistigen Eigentum Geld zu verdienen. Die Lobby sollte Landwirte davon abhalten, traditionelles Saatgut zu verwenden und damit einen neuen Markt generieren. Das heißt: Plötzlich sollen wir für etwas zahlen, was uns immer frei zur Verfügung gestanden ist. Ich war von dieser Denkweise überwältigt, und fragte mich: Wie würde der Versuch aussehen, die Sprache zu privatisieren? Mit dem Titel Ecologia will ich darauf aufmerksam machen, dass alle Gespräche, die wir über die Klimakrise und ihre Auswirkungen führen, ausnahmslos bei der Wirtschaft enden. Es gibt diese Spannung zwischen der Entscheidung, ein gutes Leben auf der Erde zu führen oder sich dem Turbokapitalismus zu beugen. Dieser Dichotomie wollte ich Ausdruck verleihen. Gleichzeitig sah ich in diesem Buch die Gelegenheit einer Hommage an die Sprache.
Auf welche zukünftigen Publikationen dürfen sich Leser*innen freuen?
Kommenden September erscheint der Roman A História de Roma. Er handelt von einem Ex-Paar, das sich zehn Jahre nach der Trennung in Lissabon wiedersieht. Die beiden flanieren, sprechen über die Vergangenheit und beschwören dabei Erinnerungen hoch. Dabei merken sie, wie unterschiedlich sie vergangene Erlebnisse im Gedächtnis haben.
Wenn Sie persönlich die Wahl hätten, welches Buch sähen Sie gern als erstes ins Deutsche übersetzt?
Vor Kurzem hätte ich noch gesagt Ecologia, weil es meine persönliche Tour de Force ist. Momentan fühle ich mich jedoch A História de Roma sehr verbunden. Um die Sache kompliziert zu machen muss ich sagen, dass es mich interessieren würde, wie O Lago Avesso bei deutschsprachigen Leser*innen ankäme. Ja, das wären die Favoriten. Jetzt heißt es nur noch, dieses Dilemma zu lösen. (lacht)